Leseprobe Susan Faludi


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Das Grand Hotel Royal

»Vadász-Straße«, wiederholte mein Vater. Sie meinte das »Glashaus« in der Vadász utca 29, in dem im Spätsommer 1944 unter dem Schutz der Schweizer Botschaft zionistische Jugendorganisationen Unterschlupf gefunden hatten. Die Jugendgruppen druckten und verteilten Zehntausende gefälschter Papiere, schmuggelten Juden über die rumänische Grenze und sammelten nützliche Informationen für die Alliierten. Nach der Regierungsübernahme durch die Pfeilkreuzler im Herbst 1944 beschafften sich die jungen Zionisten auch faschistische Parteiuniformen und Armbinden, die sie trugen, wenn sie gefälschte Dokumente verteilten. Sie waren nicht sehr zahlreich – vielleicht ein paar Hundert, eine der kleinsten Bewegungen dieser Art in Mitteleuropa –, und viele von ihnen waren als Flüchtlinge aus der Slowakei und Polen gekommen.

Mein Vater trat der zionistischen Jugendorganisation Betar bei, angestachelt von seinem 17 Jahre alten Cousin Frigyes »Friczi« Schwarcz, der 1944 in die Stadt gekommen war und den bewaffneten Widerstand organisieren wollte. Die beiden jungen Männer bewohnten für kurze Zeit zusammen eine verlassene Wohnung, ehe Friczi in einen »Bunker« am Rand von Pest umzog, um einen Aufstand vorzubereiten. Bald darauf wurden er und seine Bunkergenossen von Nachbarn denunziert und anschließend exekutiert. »Die wollten ›gegen die Nazis kämpfen‹!«, spottete mein Vater. »Dabei wussten sie nicht einmal, wie man mit einer Waffe umgeht. Friczi wollte ein Held sein. Aber er hat nicht überlebt.«

Mein Vater arbeitete auch weiter sporadisch für Betar. »Ich hatte einen einzigen Verbindungsmann. Er trat mit mir in Kontakt und gab mir einen Auftrag, zum Beispiel, ein Haus mit Nazis auszuspionieren. Da trug ich dann den Overall und die Mütze meines Vaters.«

»Warum?«

Mein Vater warf mir einen ihrer Was-bist-du-blöd-Blicke zu. »Waail sie, wie ich dir schon gesagt habe, grau waren. Die Farbe der Luftwaffe. Ich tat, als sei ich ein Luftwaffenmechaniker, der für die Nazis arbeitet.«

»Und das hat funktioniert?« Ich hatte meine Zweifel.

»Es hat ganz gut funktioniert.« Und so sei es auch zu einem »noch absurderen Ereignis« gekommen. Der Betar-Kontaktmann habe meinen Vater eines Tages gebeten, eine Grundschule auszuspionieren, die von der SS beschlagnahmt worden war und nun von Gestapo und Pfeilkreuzlern genutzt wurde. »Da brachten sie Leute hin, um sie zu verhören und zu verprügeln «, sagte mein Vater. Er sollte herausfinden, wer dort festgehalten wurde.

»Wie es sich herausstellte, ging es um meine Grundschule.« Die Schule, die mein Vater bis zum zwölften Lebensjahr besucht hatte, war im ungarischen Rabbinerseminar untergebracht. »Ich zog meine ›Uniform‹ an, ging mit meinen gefälschten Papieren hin und stellte mich als Freiwilliger für die Nachtwache zur Verfügung. Die Pfeilkreuzler waren wirklich nicht besonders helle, waaißt du. Die freuten sich, dass ihnen jemand half.«

»Was hast du herausgefunden?«

»Nichts von Bedeutung. Ich war nicht sehr lang da. Vielleicht eine Woche. … Aber niemand verdächtigte mich, ein Jude zu sein. Ich habe mich eben auch nicht so verhalten.«

»Wie denn?«

»Zum Beispiel habe ich keinen Blödsinn gemacht.« Ihre Stimme wurde lauter. »Oder mich auf den ›Schutz‹ irgendwelcher Diplomaten verlassen, die in Wahrheit nichts ausrichten können.« Sie meinte ihre Eltern. »Ich bin nicht in ein Schutzhaus gezogen und habe gesagt: ›Oh, jetzt sind wir sicher!‹« Sie sprach diese letzten Worte in einem affektierten Ton. »Mag ja sein«, schränkte sie ein, »dass sie eine Weile wirklich sicher waren. … Aber dann musste ich sie da rausholen.«

Ich griff nach meiner Kladde. »Wie denn?«

»Das habe ich dir doch alles schon erzählt.«

»Nicht im Detail.«

Sie starrte auf ihren leeren Teller. »Was willst du wissen?«

»An dem Tag … hast du da den Overall angehabt?« Die Frage war dämlich, aber ungefährlich. Sie redete ja gern über Kleider.

»Nein, ich habe nur die Armbinde getragen. Und den Pfeilkreuzler-
Hut.« An dem Tag wollte sie nicht als deutscher Offizier, sondern als ungarischer Nazi durchgehen. »Und eine Waffe.«

»Eine Waffe?«

»So ein altes Armeegewehr. Wahrscheinlich hatte ich das von jemandem in der Vadász-Straße. Ich weiß noch, dass keine Munition
drin war!« Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte, fügte mein Vater hinzu. Wie Friczi konnte auch der junge István nicht schießen.

»Und die haben dich reingelassen?«

»Ich war bewaffnet, also hatte alles seine Richtigkeit.« Er sagte dem Wachmann an der Eingangstür, dass er Befehl habe, die Friedmans abzuholen. »Ich spielte den Fiesling, aber nicht zu fies. Ich habe es nicht übertrieben.«

»Waren sie nicht misstrauisch?« Mir fiel es schwer, mir die Situation vorzustellen.

»Ich habe dir schon gesagt, ich kann mich gut verstellen.« Sie stand auf und schwenkte zackig die Arme. »Ich marschierte die Treppen hoch, links zwo, links zwo, stieß die Tür auf und brüllte: ›Ist hier ein Jenő Friedman? Und seine Frau? Schickt mir die gottverdammten Juden raus! Und sie dürfen nichts mitnehmen!‹« Sie stieß den Arm mit dem unsichtbaren Gewehr in der Faust in die Luft.

»Und sie waren da?«

»Da waren so viele Leute drin, wie sie nur hineinstopfen konnten«, erzählte sie, »dicht gedrängt … alte Leute, kranke Leute, kleine Kinder.« Sie musste an ihre Blicke denken. »Meine Eltern taten ihnen leid«, sagte sie. »Sie dachten: ›Oh naain, dieser Nazi wird die armen Friedmans umbringen!‹« Er habe seine Eltern an die Tür gerufen. Als sie durch den Gang näherkamen, sprach ihn ein älterer Jude an. »Er wollte wissen, ob ich ihm falsche Papiere besorgen könnte.« Das heißt, er hatte den jungen Mann mit der faschistischen Armbinde als Juden erkannt. »Ich habe ihn angebrüllt: ›Hau ab hier, oder ich nehme dich auch mit!‹« Der Mann wich zurück, und mein Vater trieb seine Eltern mit vorgehaltener Waffe die Treppe
hinunter.

»Als wir an dem Wachmann am Eingang vorbeikamen, salutierte ich und rief: ›Lang lebe Szálasi!« Mein Vater wischte die Krümel von ihrem Spitzendeckchen. »Und so habe ich die Familie wieder zusammengebracht.«

Im Frühwinter 1944 bezogen Vater, Mutter und Sohn eine verlassene Wohnung am Rande von Pest. Den falschen Papieren nach, die mein Vater bei der zionistischen Widerstandsbewegung beschafft hatte, waren sie die Familie »Fabian«, katholische Flüchtlinge aus der rumänischen Stadt Brașov. Während der langen Belagerung Budapests schlug wenige Tage nach Weihnachten direkt gegenüber eine Bombe ein und brachte sämtliche Fenster des  Wohnblocks zum Bersten. Die Familie Fabian zog sich in den Keller zurück, wo sie den Rest des Krieges verbrachte. »Als wir wieder nach oben kamen«, erzählte mein Vater, »stand da ein Mann und schrie uns an: ›Ich bin der rechtmäßige Besitzer dieses Hauses!‹ Wir sagten: ›Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Wir bleiben nicht.‹ Er stellte sich vor, und rate mal, wie er hieß? Friedman.« 

Mein Vater musterte meine Hand, die über die Kladde flog. »Waaißt du, wenn du über meine Lebensgeschichte schreibst«, sagte sie, »könntest du das gut verwenden. Und außerdem«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, »ist es die Wahrheit.«

Wirklich? Oder war das auch nur wieder so ein Märchen? Hatte der Trickfotograf die Pfeilkreuzler ausgetrickst, oder trickste Stefánie mich aus? Wie sollte ich den Wahrheitsgehalt einer Geschichte beurteilen, deren Zweck es war, den Geschichtenerzähler als extrem guten Lügner darzustellen?

Aus: Susan Faludi: Die Perlenohrringe meines Vaters. Geschichte einer Neuerfindung. Übersetzt von Judith Elze und Anne Emmert. München: dtv 2018. Seite 249-253.

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