Kafkas letzter Prozess

 

Werkstattbericht

Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess. Berlin: Berenberg Verlag 2019

April bis Dezember 2018

Im Frühjahr 2018 erreichte mich eine Anfrage von Berenberg , einem kleinen feinen Berliner Verlag, für den ich bereits zwei interessante Bücher aus dem Englischen übersetzt hatte. Die Zusammenarbeit war angenehm, das Lektorat hervorragend,  die Verträge richteten sich nach den Gemeinsamen Vergütungsregeln, waren also für die Branche ungewöhnlich fair. Ich war gespannt auf das Manuskript.

Doch als ich zu lesen begann, war ich schon nach zehn Minuten oberflächlicher Lektüre ernüchtert, und zwar durchaus nicht wegen der Qualität des Textes. Vielmehr ließen ein Blick in die Endnoten und eine Zählung der Anführungszeichen (um die 3000) keinen Zweifel daran, was der Übersetzerin blühte: Zitate über Zitate, viele von Franz Kafka und Max Brod, die allermeisten ohne bibliografischen Beleg. In den Fußnoten, in den Endnoten: noch mehr Zitate ohne genaue Quellenangaben.

Das Buch

Benjamin Balint, Autor und Übersetzer aus Jerusalem, greift in seinem Buch die Prozesse um Max Brods Nachlass in Israel auf. Diesen Nachlass, der auch Schriften und Skizzen Franz Kafkas enthielt, hatte Brod, der 1968 in Israel starb, seiner Sekretärin Ester Hoffe vermacht, die ihn wiederum an ihre Töchter vererbte. Die Israelische Nationalbibliothek klagte auf Herausgabe und gewann 2016 den Prozess vor dem Obersten Gericht in Jerusalem.

Balint begleitete die Erbin Eva Hoffe durch die letzten Instanzen, in denen nicht nur ihr Erbanspruch geklärt, sondern auch entschieden werden sollte, wo Kafkas Schriften eigentlich „hingehören“: in das hervorragend ausgestattete Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das Interesse am Erwerb signalisierte und im Prozess anwaltlich vertreten war, oder in die Israelische Nationalbibliothek? Die Fragen, denen Balint in dem Buch nachgeht, sind natürlich auch und gerade für ein deutsches Publikum interessant, unter anderem: Wie jüdisch, wie zionistisch, wie deutsch war Kafka? Spielt es heute noch eine Rolle, dass Max Brod die Manuskripte vor dem NS-Regime nach Palästina rettete? Wie war das Verhältnis des neuen jüdischen Staates zu Kafka und zur Literatur deutschsprachiger Juden? Welche Interessen verfolgte der israelische, welche der deutsche Staat, vertreten durch die jeweiligen Kulturinstitutionen?

Balint schrieb ein Sachbuch, keine geisteswissenschaftliche Abhandlung. Entsprechend war mit dem Originalverlag nicht vereinbart, Zitate seitengenau zu belegen. Der Autor hatte viel Primärliteratur und noch mehr Sekundärliteratur gelesen, der er viele ins Englische übersetzte Zitate deutscher Autoren entnahm, was durchaus legitim ist. Für die deutsche Ausgabe musste jedes  Zitat einzeln auf seine Quelle zurückgeführt werden, zumal für einen Autor wie Franz Kafka, der in Deutschland eine „heilige Kuh“ ist.

Diese Schwierigkeiten vor Augen, war, das muss ich gestehen, mein erster Impuls, die Mammutaufgabe großzügig weiterzureichen: Ich fragte im Kollegenkreis herum, ob sich jemand gut mit Kafka oder gar Brod auskenne und Lust habe, sich auf diese Odyssee zu begeben. Die Absagen kamen prompt: Die meisten hatten keine Zeit, eine erfahrene Kollegin fragte, warum der Verlag ein so aufwendiges Buch überhaupt mache.

Nachdem ich ein paar Nächte darüber geschlafen hatte, freundete ich mich doch mit dem Gedanken an, das eher ungewöhnliche Projekt zu übernehmen. Ich fand das Buch thematisch und sprachlich reizvoll, und mir gefiel die Haltung des Autors, der sich der komplexen Geschichte mit Empathie für die Personen und Distanz zu den Institutionen näherte. Nachdem mir der Verleger ein großzügiges Seitenhonorar mit der Möglichkeit eines späteren Nachschlags für Recherche eingeräumt und versichert hatte, dass mir der Autor in allen Fragen zur Verfügung stehen werde, sagte ich zu.

Seit 2009 hatte ich sechs Stipendienanträge an den Deutschen Übersetzerfonds gestellt, war aber nur einmal (2014) bedacht worden. Mit diesem arbeitsintensiven Titel, dachte ich nun, müsste ich endlich wieder zum Zug kommen. Doch obwohl der DÜF im Sommer 2018 so gut ausgestattet war wie nie zuvor, schickte er mir wieder eine Absage. Zum Glück konnte ich noch schnell ein Arbeitsstipendium beim Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. beantragen, der sich meiner erbarmte und mir 1000 Euro zusprach. 

Die Zitatrecherche

Meine Zeitplanung für die gut 300 Manuskriptseiten war großzügig: Ich begann Anfang April mit der Arbeit, Ende September sollte die Übersetzung vorliegen. Da passagenweise gleich mehrere Zitatschnipsel in einem Satz vorkamen, hatte ich mir vorgenommen, vor dem Übersetzen möglichst viele der unbelegten Zitate zu recherchieren. Dafür hatte ich fünf Wochen eingeplant. Mit der Nachrecherche kam ich auf gut sechs Wochen. Den Großteil dieser Zeit verbrachte ich am Schreibtisch mit der Suche im Internet, einige Tage in der Unibibliothek in Würzburg.

Mit den gemeinfreien Kafka-Texten kam ich überraschend gut voran. Tagebücher, Briefe, Erzählungen und Romanfragmente sind als PDFs auffindbar, allerdings überwiegend in der älteren Ausgabe Max Brods. Wenn ich nicht wusste, wo ich suchen musste, fand ich in der Suchmaschine häufig schon über ein paar deutsche Stichwörter die Primärquelle oder einen Hinweis in der Sekundärliteratur. Einige Zitate recherchierte ich in Reiner Stachs dreibändiger Kafka-Biografie, die ich mir ausgeliehen hatte, oft mit dem Umweg über die Google-Books-Suche in Shelley Frischs englischer Übersetzung. Sämtliche Zitate notierte ich samt Quelle, um später in der Bibliothek den Wortlaut in der Kritischen Ausgabe zu verifizieren.

Schwieriger gestaltete sich die Suche nach den nicht gemeinfreien Brod-Zitaten. Die Autobiografie und die Kafka-Biografie besorgte ich mir antiquarisch, archive.org half mir mit den Originalen anderer Werke (u. a. Heidentum, Christentum, Judentum). Über die englische Übersetzung konnte ich manche Zitate auf Google Books zuordnen und in der Bibliothek nachsehen. Aus Sicht einer Urheberin, die für die von ihr übersetzten Texte im Internet vergütet werden möchte, sind Erfolge dieser Art durchaus zwiespältig. Aber ich gebe zu: Ich war einfach nur froh über jeden Fund.

Zwei kurze Brod-Zitate paraphrasierte ich, weil ich jeweils den gesamten Roman hätte durchackern müssen (wer schon einmal einen Roman von Brod gelesen hat, weiß, warum ich hier eine rote Linie zog, die ich dem Autor auch kommunizierte). Das Zauberreich der Liebe musste ich zumindest querlesen, um die zahlreichen Stellen zu finden, die fast zwei Manuskriptseiten füllten. Manche Zitate, für die ich keinerlei Quellenhinweise hatte, fand ich per Zufall beim Blättern in einem Buch, z. B. dieses in Brods Kafka-Biografie:

… they would chuckle at certain Czech figures of speech, like člobrdo (“poor little chap”).

… amüsierten sich aber über tschechische Wendungen wie člobrdo („Du armes, klappriges, verdammtes Menschlein“).[*] (S. 25)

[*] Brod, Franz Kafka. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1964, S. 56.

In der Unibibliothek in Würzburg verbrachte ich insgesamt fünf Tage, in denen ich neben Kafka- und Brod-Zitaten auch die meisten Passagen aus anderen deutschen Quellen oder übersetzter (Sekundär-)Literatur nachsah, die ich vorrecherchiert hatte, u. a. von Hannah Arendt, Walter Benjamin und Milan Kundera. Ich disziplinierte mich dahingehend, dass ich vor Ort jedes Zitat gleich noch einmal gegenlas – und trotzdem fand die Lektorin im fertigen Manuskript noch zwei Tippfehler. In der Sekundärliteratur stieß ich meinerseits auf Flüchtigkeitsfehler, die mich im Nachhinein trösten. So hatte der Übersetzer eines Buches von George Steiner im
Kafka-Kontext das englische Metamorphosis nicht mit Die Verwandlung übersetzt, sondern mit Metamorphosen.

An die 500 Zitate, die meisten  kurze Schnipsel, recherchierte ich auf diese Weise. Hier ein willkürlich ausgewählter Absatz zur Illustration; im Original gab es für die Zitate keine Belege:

Kafka, by contrast, asked himself in his diary in 1922: “What have you done with your gift of sex? It was a failure, in the end that is all that they will say.” Kafka also noted that several of the literary forbearers he admired most— Kleist, Kierkegaard, Flaubert— were lifelong bachelors. “You avoid women,” Brod told Kafka, “you try to live without them. And that doesn’t work.”

Ganz anders als Brod fragte sich Kafka 1922 in seinem Tagebuch: „Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan? Es ist mißlungen, wird man schließlich sagen, das wird alles sein.“ Viele der von ihm besonders bewunderten literarischen Vorbilder – Kleist, Kierkegaard, Flaubert – seien ihr Leben lang Junggesellen gewesen, so Kafka. „[D]u weichst den Frauen aus“, warf Brod ihm vor. „Du versuchst, ganz ohne sie zu leben. Und das geht nicht.“ [*] (S. 31)

[*] Kafka, 18. Januar 1922, in: Tagebücher, S. 879. Brod an Kafka, 14. September 1922, in: Brod / Kafka. Briefwechsel, S. 420.

Wenn ich im Haupttext auf falsche Zitatzuordnungen stieß, teilte ich das dem Autor umgehend mit, denn er korrigierte gerade die Fahnen der englischen Ausgabe und arbeitete alles dankbar ein. Umgekehrt erhielt ich von ihm im Lauf der Arbeit noch acht Dateien mit Errata und eine Reihe von Ergänzungen (Eva Hoffe starb im August 2018, im September wurden die Papiere aus ihrer Wohnung geborgen und so weiter).

Im Mai trug ich sämtliche Fragen, die offengeblieben waren, in die Original-PDF ein und schickte sie an den Autor. Einige Fragen beantwortete er sofort. (Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es mir, als er mir die bearbeitete Datei zurückschickte, nicht gelang, sämtliche Kommentare sichtbar zu machen, sodass ich ihm einige Fragen noch einmal stellte. Das stellte sich erst in einem Telefonat im Sommer heraus.) Ein paar Dokumente und Archivmaterialien lieferte er mir in Kopie. Andere Quellen wollte er noch abklären. Vieles blieb vorerst ein Rätsel.

Als ich Ende September meine Übersetzung abgab, markierte ich die noch ungeklärten Stellen für die Lektorin, die sie dem Autor erneut zuschickte. Manch eine Stelle konnten wir erst im Fahnenstadium klären, so ein Zitat, das angeblich aus Klaus Wagenbachs Einleitung zur Neuausgabe seiner Kafka-Biografie stammte. Die alte Ausgabe aus den sechziger Jahren hatte ich zu Hause, nun bestellte ich, weil es schnell gehen musste, die neuere antiquarisch. Als ich auch darin nicht fündig wurde, gab ich das englische Zitat in die Suchmaschine ein, und siehe da: Es stammte aus dem Vorwort des britischen Kafka-Experten Ritchie Robertson zum englischsprachigen Wagenbach-Titel Kafka: A Life in Prague.

Auf die Bibliografie will ich hier gar nicht weiter eingehen. Sie enthält neben den vielen Primär- und Sekundärwerken, die der Autor gesammelt hatte, nun auch die Quellen, die ich anzapfte, und ist daher um etwa ein Drittel angeschwollen.

Die Übersetzungsarbeit

Als ich im Mai endlich mit dem Übersetzen anfing, kam ich dank der intensiven Vorarbeit zügig voran. Zitat für Zitat, Endnote für Endnote arbeitete ich während des Übersetzens die Fundstellen ein. Da viele kurze Zitate in Sätze eingebettet waren, musste ich die Übersetzung oft an die Schnipsel anpassen, die im Deutschen syntaktisch naturgemäß weniger flexibel waren als im Englischen. Manchmal war die englische Übersetzung eines deutschen Originalzitats so frei, dass ein Satz völlig neu aufgebaut werden musste. Hin und wieder veränderte ich in Absprache mit dem Autor einen Zitatausschnitt, um die Aussagekraft zu erhöhen.

Im August wurde mir klar, dass ich mich dringend um eine einigermaßen konsequente Schreibung der hebräischen Namen kümmern musste. Bei arabischen Namen wähle ich eine Schreibweise, die der Aussprache möglichst nahe kommt, damit die Leser nicht dauernd darüber stolpern. Ich wendete mich an die Kollegin Ulrike Harnisch, die aus dem Hebräischen übersetzt und ähnlich pragmatisch vorgeht. Sie war so freundlich, mir bei den Grundlagen der Transkription zu helfen und Zweifelsfälle zu klären. Völlige Stringenz ist freilich unmöglich, weil auch deutsche Verlage unterschiedlich mit der Schreibung umgehen, sodass ich zum Beispiel bei einigen in Deutschland verlegten Autoren Ausnahmen machen musste.

Trotz der vielen Zitate war die Übersetzungsarbeit vielseitig, denn in Kafkas Letzter Prozess gibt es Schilderungen aus verschiedenen israelischen Gerichtssälen, Gespräche mit der letzten Erbin Eva Hoffe und anderen Beteiligten, Einblicke in die Freundschaft zwischen Kafka und Brod, Schilderungen von Brods Flucht aus Prag und seinem Wirken in Israel und nicht zuletzt Ausflüge in Geschichte und Literaturwissenschaft. Aus Balints sorgfältigen Formulierungen spricht seine Bewunderung  für Franz Kafka, etwa an dieser Stelle, in der es um das „Deutsche“ seiner Prosa geht:

Kafka besuchte eine deutsche Universität, studierte deutsches Recht und vertiefte sich in deutsche Literatur. Wichtiger noch: Die strenge Musikalität seiner Sprachkunst war mit der deutschen Sprache untrennbar verbunden, ja, sie wurde erst durch sie ermöglicht. In der Wucht und Dynamik seiner meisterlich austarierten Sätze formte Kafka aus dieser Wechselbeziehung eine makellos unprätentiöse Prosa, präzise, sparsam und transluzent, ein unerbittliches Deutsch bar jeder Redundanz, jeder Ungenauigkeit. (S. 173)

Die Freundschaft zwischen Kafka und Brod erhält breiten Raum, weil nur vor diesem Hintergrund zu erklären ist, warum Brod Kafkas Schriften in einem Koffer aus Prag rettete und sein Leben fortan dem Werk seines Freundes widmete.

Die beiden trafen sich einmal, manchmal zweimal am Tag. Brod gefiel Kafkas sanfter Gleichmut. Eine „süße Sicherheit“, „etwas ganz ungewöhnlich Starkes“ sei von ihm ausgegangen, so Brod, auf den Kafka gleichermaßen klug und kindlich wirkte. In seiner Autobiografie sprach Brod später von einem „Zusammenprall der beiden Seelen“, als sie gemeinsam Platos Protagoras auf Griechisch und Flauberts Erziehung des Herzens (1869) und Die Versuchung des Heiligen Antonius (1874) auf Französisch lasen. (Kafka schenkte Brod unter anderem ein Buch von René Dumesnil über Flaubert). „Das Schöne und Einzigartige der gegenseitigen Beziehung lag darin“, schrieb Brod, „daß wir einander ergänzten und einander […] viel zu geben hatten“. Die Unterstützung reichte bis in die mündlichen Jura-Prüfungen. „Nur die Zettelchen haben mich gerettet“, dankte Kafka anschließend seinem Freund.[*] (S. 25)

[*] Brod, Kafka. Eine Biographie, S. 56, S. 72. Zitate Streitbares Leben, S. 162, S. 188. Kafka an Brod, 17. März 1906, in: Briefe 1, S. 44.

Balint verschweigt nicht die zwiespältige Rolle Max Brods, ohne den Kafkas Werk wohl in der Versenkung verschwunden wäre, der seinen Freund postum aber auch zu einem Heiligen stilisierte. Nicht weniger kompliziert ist die Figur der betagten Erbin Eva Hoffe, die im Sommer 2018 starb. Balint bringt ihr viel Sympathie entgegen, ohne in der Sache (der Vereinnahmung der Kafka-Manuskripte durch Privatpersonen) Partei für sie zu ergreifen. Er schildert ihren Trotz, der bis zum Starrsinn reichte, aber auch ihre Verzweiflung.

Offenbar begriff sie sich als die Summe ihrer juristischen Niederlagen, denn sie verglich die endlosen Vertagungen und Verzögerungen in ihrem Fall mit Josef K.s Erfahrungen in Der Prozess. Nach ihrem Empfinden hatte sich in beiden Fällen ein System der Willkür in den öffentlichen und privaten Bereich eingeschlichen – „Es gehört ja alles zum Gericht“, erklärt der Maler Titorelli Josef K. „Ich kam mir in dem Prozess von Anfang vor wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird“, sagte Eva Hoffe. (S. 233)

Das Lektorat                                                                                                            

Dass nicht nur meine Übersetzung, sondern auch das Original (in Hinblick auf das deutsche Umfeld) einer genauen Lektoratsdurchsicht bedurfte, war von Anfang an klar. Zum Glück nahm sich die Lektorin Beatrice Faßbender, selbst auch Übersetzerin, die nötige Zeit: Sie klärte Fragen mit dem Autor, verfeinerte einzelne Passagen und formte sämtliche Fußnoten in Endnoten um, alles in Absprache mit Benjamin Balint.

Sie glättete Schwachstellen meiner Übersetzung oder gab mir einzelne Formulierungen zur Überarbeitung zurück. Und sie fand Fehler, die ich erst hineingebaut hatte. Nicht zum ersten Mal in meiner Übersetzerlaufbahn musste ich an einen Satz meiner heute 85-jährigen Tante Roswitha denken, die jahrzehntelang Klassikerübersetzungen für den Reclam Verlag in Ditzingen redigierte: „Übersetzer können nicht abschreiben.“ Meine Tante überprüfte immer als Erstes sämtliche Zahlen und Namen. Und das war auch hier notwendig. Die Gründung des Literaturarchivs in Marbach hatte ich von 1955 ins Jahr 1945 vorverlegt. Und an einer Stelle trat zu dem Grundsatz meiner Tante  ein zweiter, den ich aus Übersetzersicht hinzufügen würde: „Autoren können nicht rechnen“. Der Autor hatte geschrieben:

Max Brod died on December 20, 1968. He once remarked to Esther that he would not like to live longer than Goethe, who died in his eighty-third year. Brod passed away a few weeks before he reached the age of eighty-five.

Da Brod am 27. Mai 1884 geboren wurde, starb er ein knappes halbes Jahr vor seinem 85. Geburtstag. Fehler Nummer 1 erkannte ich aber nicht, sondern ergänzte ihn durch falsches Abschreiben um einen zweiten:

Max Brod starb am 20. Dezember 1968. Zu Ester hatte er einmal gesagt, er wolle nicht länger leben als Goethe, der in seinem 81. Lebensjahr verschieden war; Brod wäre wenige Wochen später 85 geworden.

Der Kommentar der Lektorin („Mannomann“) lässt erahnen, wie viel das Projekt auch ihr abverlangte.

Gerne mehr Abwechslung!

Das Bedürfnis, diesen Werkstattbericht zu schreiben, entspringt einer gewissen Erschöpfung, die ich bis zur Fahnenabgabe Anfang Januar mit mir herumschleppte. Als ich Ende September abgab, war ich geradezu erleichtert, dass das nächste größere Projekt erst nach der Buchmesse anstand. Über die Jahreswende wollte ich dann ein bisschen Kraft tanken, machte aber die klassische Freiberufler-Erfahrung: Am 23.12. lieferte ich den letzten Zeitschriftentext des Jahres ab, sicherte mein aktuelles Buchprojekt, räumte das Postfach auf und wollte gerade den Computer herunterfahren, um ihn erst nach dem Dreikönigstag wieder anzuschalten. Da flatterte eine E-Mail vom Berenberg Verlag ins Postfach: Die Fahnen seien schon fertig, man brauche sie bis zum 7.01. korrigiert zurück, bis dahin sei man leider nicht zu erreichen.

Ich übersetze gern Sachbücher. In diesem Fall hatte ich es mit einem inhaltlich und sprachlich vielseitigen Buch zu tun, das mir Anlass gab, mal wieder Kafka zu lesen. Ich entdeckte Victor Klemperers LTI für mich, das in Zeiten rechtspopulistischer Hetze eine erschreckende Aktualität hat. Und mit einigem Erstaunen baute ich die ätzenden Bemerkungen Walter Benjamins und Gershom Scholems ein, die einmal mehr beweisen, dass Intellektuelle vor Häme nicht gefeit sind: 

„[Kafkas] Freundschaft mit Brod“, schrieb [Benjamin] an Scholem, „ist für mich vor allem ein Fragezeichen, das er an den Rand seiner Tage hat malen wollen.“ In einem anderen Brief versuchte er es 1939 mit einer Antwort: „Und was die Freundschaft mit Brod betrifft, so habe ich das Gefühl, der Wahrheit auf der Spur zu sein, wenn ich sage: Kafka als Laurel fühlte die lästige Verpflichtung, sich einen Hardy zu suchen – und der war Brod.“ Worauf Scholem erwiderte, Kafkas Los sei es gewesen „überall auf Leute zu stoßen, die aus dem Humor eine Profession machten: auf Klowns“.[*] (S. 198)

[*] Walter Benjamin / Gershom Scholem, Briefwechsel 1933–1940, Frankfurt a. M. 1980, S. 273, S. 293.

Neben Sachbüchern übersetze ich erzählende Literatur, eine Arbeit, die für das innere Gleichgewicht unglaublich wichtig ist. Dialoge, Sprachwitz, Atmosphäre, Spannung fordern einfach andere Areale des Gehirns und der Phantasie. In einer idealen Welt hätte ich nach dem kräftezehrenden Kafka-Brod-Projekt zum intellektuellen Ausgleich ein Jugendbuch oder einen Krimi auf den Tisch bekommen. Leider ist es für eine Übersetzerin fast unmöglich, das Arbeitsjahr so abwechslungsreich zu planen. Der Wunsch bleibt.